REV 01.06.2013

Ursula Ströbele: Die Bildhaueraufnahmestücke der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris 1700 – 1730

Rezensiert von Markus Castor, Deutsches Forum für Kunstgeschichte Paris
Marthje Sagewitz, Müssen
Redaktion: Karin Leonhard
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Keine Institution hat das europäische Kunstleben der Frühen Neuzeit, die Reflexion zur Kunst, Kunstgeschmack und -produktion so tiefgreifend geprägt, wie es für die 1648 gegründete Académie Royale de Peinture et de Sculpture zutrifft. Die nach den italienischen Vorbildern neumodellierte Pariser Akademie wurde zum verbindlichen Modell der nachfolgenden Gründungen Europas. Vor diesem Hintergrund muß die bis heute marginal erscheinende Beschäftigung mit dem Phänomen der Akademien erstaunen. Sie wäre fundamentaler Bestandteil der eigenen Wissenschaftsgeschichte.
Für die Auseinandersetzung mit der Skulptur gilt dieser seit langem beklagte Mangel ebenso und weiterhin. Dieser hat auch mit der neuzeitlichen Dominanz der Malerei und der Präferenz für ihre aristotelisch geprägte Erzählkraft zu tun. Die im Blick auf ihr Tun besonders selbstreflexive und damit zugleich sprachliche Verfaßtheit akademischer Körperschaften beförderte die Konkurrenzen abermals. Doch es ist die Bildhauerkunst, die im fruchtbaren Streit der Anciens et des Modernes die hervorragendsten Berührungspunkte aufzuweisen hat. An der Plastik entzündet sich der streitbare und geschichtsbewußte Disput zur Modernität, an ihr entfalten sich die theoretischen wie bildnerischen Argumente zum Paragone. Mit ihrer Arbeit zu den bildhauerischen Aufnahmestücken der königlichen Pariser Kunstakademie gelingt es nun Ursula Ströbele auf beiden Feldern, die Lücken zu verkleinern.

Skulptur anfassen – die Werke

Im Gegensatz zur Vielzahl an Publikationen zur Malerei vor und nach 1700 läßt die Forschung zur französischen Skulptur dieser Epoche einen grundlegenden Überblick vermissen. Noch weniger prominent, dafür kunsthistorisch am aufschlussreichsten, sind die „Morceaux de réception“, die meist in Marmor gearbeiteten Bildhaueraufnahmestücke der Académie Royale. Bisher nur in Aufsätzen und einer beschränkten Zahl von Bildhauermonographien beispielhaft thematisiert, erlaubt gerade ihre Analyse Kunstgeschichtsschreibung der Gattung über eine Epoche hinweg, anhand einer dichten Werkabfolge nach definierten Vorgaben. Dass die Geschichte im Kontext akademisch ausformulierter Leitlinien geschrieben werden kann, hat auch methodische Vorteile.

Mit ihrer Arbeit zu den Bildhaueraufnahmestücken stellt die Autorin eine Reihe von Werken, eine Leda (Jean Thierry), einen Sebastian (François Coudray), einen Titan foudroyé (Francois Dumont), eine Dido (Augustin Cayot) und acht weitere zwischen 1700 und 1730 eingereichte Bildhaueraufnahmestücke ins Zentrum. Berücksichtigt werden weiter ausholend aber auch Arbeiten von Michel Anguier, Pierre Puget, Thomas Regnaudin, David Bourdelle, Nicolas Coustou, Corneille van Clève, Falconet, Lemoyne bis hin zu Pigalle, die im Buch nicht ohne Referenzgrößen wie Bernini, Algardi, Sansovino oder Michelangelo auskommen müssen. Damit erhalten die im Mittelpunkt des Buches stehenden Werke ihren erhellenden historischen Rückbezug und machen so die Problematik einer kaum haltbaren, in Epochen gegossenen linearen Abfolge deutlich. Sie folgen originär bildhauerischen Fragestellungen und bilden eine eigene Stilistik aus, Avatare, die sich in die üblichen Schemata schwer einbinden lassen.
Ursula Ströbele steht mit ihrem Buch vor der Aufgabe, zwischen Detailstudie und Entwicklung über einen sehr gedehnten Zeitraum hinweg zu vermitteln, und dieser Spagat gelingt. Die Autorin gibt einerseits der Gattung die angemessene (und naheliegende) Bedeutung zurück, und sie vermag es andererseits, die französische Kunsttheorie der Neuzeit in ihrem akademischen Rahmen neu zu beleuchten. Ströbele widmet sich dem Ort, an dem theoretische Reflexion und praktische Fertigkeiten, Bilderfahrung und Raisonnement zusammengeführt werden. Die in der sprachlichen Darstellung anschaulichen gehaltenen Werkanalysen sind Ausgangspunkt zu einer Reihe von Fragen nach Funktionen, Kompositionen und Themen und zielen auf die Hauptfrage: die nach der Teilhabe der Künstler und Werke an einer ästhetischen Diskussion und nach dem Einfluss auf die Entwicklung der französischen Skulptur. Diese Frage drängt sich auf, da die Morceaux einem Gattungswechsel unterliegen, vom Relief zur Rundplastik ab der Jahrhundertwende; Kernthema der gesamten Arbeit. Wenn Ströbele entgegen der Titelei (1700-1730) Beispiele weit nach 1730 zum Vergleich heranzieht, ist das allerdings erklärungsbedürftig. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die soziologische Verschiebung des Marktgefüges nach dem Tod Ludwig XIV. (1715) und trägt damit der Verlagerung der Auftraggeberschaft von höfischen „Commandes“ auf ein privates Klientel sowie das Herauslösen der Künstler aus der Abhängigkeit von den „Bâtimens du Roi“ Rechnung. Die Morceaux sind in diesem Kontext einerseits stabilisierende akademische Gattung bis weit in das 18. Jahrhundert hinein, andererseits nehmen sie diesen Wandel in Themen und Ausführung auf.

Ströbele perspektiviert das Phänomen der Morceaux in acht thematischen, in etwa gleich proportionierten Kapiteln, deren Hauptargumente hier vorgestellt werden sollen. Als nützlich und umsichtig erweist sich zunächst die präzise Bewertung der Quellen. Die von Ströbele favorisierten Jahrzehnte, und das scheint zunächst überraschend, sind genau die Jahre, für die man nahezu von einem Ausfall der theoretischen Auseinandersetzung sprechen kann. Auch deshalb machen Rückgriff und Ausblick in der Perspektive der Arbeit Sinn. Die einmalige Situation, im Falle der Pariser Akademie über einen umfangreichen Fonds über den Zeitraum von 1648 bis 1793 zu verfügen, macht sich die Autorin zunutze. Zum einen dienen ihr die „Conférences“ der Akademie als Möglichkeit, die kunsttheoretischen Argumente und den Fortgang der Diskussion zu studieren. Zum anderen werden die Werke ganz konkret auf die theoretische Diskussion bezogen. Die Auswertung der Quellen wird mit den 1875 von Anatol de Montaiglon herausgegebenen Protokollen der Mitgliedersitzungen sowie den maßgeblich rezipierten Traktaten der Zeit vervollständigt. Die Autorin ist sich der Schwierigkeit bewusst, die Werke mit dem theoretischen Rahmen nachvollziehbar und ohne starres Schema zu verbinden. Was jedoch deutlich hervortritt ist der akademisch beförderte Zugewinn für die bildkünstlerische Arbeit, die mit der Anbindung an den theoretischen Disput zu Werken größtmöglicher Gestaltungsfreiheit führt. Auch wenn sich Werk und Text nicht immer kurzschließen lassen, Ströbeles Diskussion vermag die Interdependenzen und die gegenseitige Befruchtung von Theorie und Praxis nachzuzeichnen.

Gattungswechsel

Die Problematik sinnvoller Bezugnahmen entschärft sich, indem Ströbele in jedem der Oberkapitel auf einen paradigmatischen Aspekt fokussiert und mit einzelnen Fallbeispielen operiert. Sie führt exemplarisch den Wechsel vom Bas-Relief zum Ronde-Bosse vor und zeigt das Bedürfnis der Bildhauer, sich von den für die Malerei und Bildhauerei gleichermaßen verbindlichen Qualitäts- und Gestaltungskriterien zu lösen, um eigene, gattungsspezifische Parameter aufzustellen. Und auch die Quellen belegen zunehmend das Favorisieren der Rundplastik, da diese dem in der theoretischen Auseinandersetzung dominierenden Tastsinn (Lichtenstein) besonders entspricht. Die gesuchte Unterscheidung von der Malerei – die selbst bezeichnenderweise malerischer wird und zum Sieg der Rubenisten führt - spielt den Vorteil der Gattung aus.

Die Themen

Ströbele widmet sich dann der Wahl des Sujets und kennzeichnet die Morceaux als eine in sich komplexe Werkgruppe mit spezifischen formalen, ikonographischen, stil- und gattungsgeschichtlichen Ähnlichkeiten. Im Gegensatz zur Dominanz der Themen vor der Jahrhundertwende, mit ihren religiösen sowie allegorischen Darstellungen der Künste und der der Herrschaft Ludwig XIV., verlegen sich die Bildhauer in der ersten Jahrhunderthälfte auf Motive antiker Mythologie. Die Autorin vermutet in dieser Neuorientierung zudem – denn die Themen wurde ja vergeben – ein Mittel zur Steuerung des Bestands der akademischen Sammlung, die wiederum Vorbildkatalog für angehende Künstler war. Doch man geht kaum fehl, hier auch die gattungsübergreifende und neuerliche Hinwendung zur Antike ganz allgemein in Anschlag zu bringen.

Ansichtigkeit

Wenn Ströbele zu Beginn des dritten Kapitels zum Thema „Stürzende Figuren – Die Abkehr vom einansichtigen Standbild“ Lemoynes sterbenden Hippolyte und Dumonts stürzenden Titan ins Zentrum stellt, werden hier Charakteristika, welche bereits den Morceaux von 1700 bis 1730 inhärent sind, anhand von Werkstücken der darauffolgenden Jahrzehnte belegt. Bei der Suche nach möglichen Vorbildern für die intensivierten Bewegungsabläufe rückt der stürzende Titan von Dumont in den Mittelpunkt. Vorbilder einer solchen inversiven Figur macht die Autorin auch in anderen Gattungen aus, etwa in Zeichnungen von Louis Silvestre II. zum gleichen Thema (um 1710) oder in Charles Le Bruns „La chute des anges rebelles“ (1685).

Skulptierter Kontext – der Sockel

Die Frage nach dem verbildlichten Sockel als Bühne der Figur lässt Ströbele weit in die Kunstgeschichte ausgreifen. Im wesentlichen wird die von den Brunnenanlagen italienischer Kardinalsgärten und den Ensembles fürstlicher Parkanlagen ausgehende Entwicklung an Beispielen aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts dargelegt. Dies zeigt gut, wie sehr die Morceaux auf die bildhauerischen Traditionen reflektieren. Die Analyse des Sockels leitet fast zwingend zum Folgekapitel hin.

Narration

Das Kapitel zum Bildhauer als Erzähler zeigt das Vermögen der Verfasserin, mit präzisen Beschreibungen die Werke sprachlich anschaulich zu machen, deren visuelle Erscheinung nachzuerzählen. Die spezifische Zeitlichkeit und der bestechend narrative Aspekt der Morceaux zeigen sich mit ihrer Allansichtigkeit und gerade deshalb mit einer der Malerei fernliegenden Konzeption. Hier läßt sich das Gravitationszentrum der Diskussion ausmachen, sowohl um die Gattungskonkurrenzen, als auch um die Ablösung des erzählerischen Reliefs durch die Rundplastik.

Passions

Mit den beiden vorletzten Kapiteln konzentriert sich das Buch auf die für Themen und künstlerisch formale Lösungen wohl folgenreichste Diskussion, diejenige zum Ausdruck der Leidenschaften. Mimik und Sprache des menschlichen Körpers binden die Serie der Morceaux einmal mehr an den akademischen Diskurs an. Die „Expressions des passions“ als Identifikationssujet für den Betrachter sind seit Le Bruns auf das Gesicht fokussierte Klassifikation und Félibiens Kritik und Betonung des Gesamtkörperausdrucks eine zunächst auf die akademische Debatte konzentrierte Thematik. Ströbele zeigt auf, dass die Themenwahl der akademischen Morceau gegen die präferierten Sujets außerhalb der akademischen Kunstproduktion steht. Die häufigen Darstellungen des physischen Schmerzes (Hl. Sebastian, Prometheus) kontrastieren mit den vom Markt bevorzugten Idyllen. Die damit verbundene Befähigung zur marmornen Verbildlichung des Übergangs vom Leben zum Tod machte in der Lehre ein umfassendes Anatomiestudium ab 1666 verpflichtend. Bei aller anhaltenden Bedeutsamkeit antiker Vorbilder demonstriert Coustous Herkules den Sieg der „Modernes“ und die zunehmende Rolle präziser Naturnachahmung.

Oberflächen

Wie die Bearbeitung der Marmoroberfläche den Abschluss der bildhauerischen Produktion bedeutet, so widmet sich diesem Thema auch der Abschluss des Buches. Das ist besonders dann schön, wenn die eminente Bedeutung der technischen Fragen zur Sprache kommt und die Vernachlässigung der Untersuchungen zur Skulpturenoberfläche mildert. Die Morceaux machen deutlich, wie die Oberfläche und ihre Behandlung zum entscheidenden Ausdrucksträger ausgebreitet werden. Mit der Aufbewahrung der akademischen Sammlung in den Räumen der Akademie blieben bis heute feinste Nuancen erhalten. Dem Duktus des Malers vergleichbar hebt Ströbele die Oberfläche als Handschrift des Bildhauers hervor und demonstriert abermals die Leistungsfähigkeit der Gattung. Der kurze Exkurs in die Moderne, gar die zeitgenössische Kunstproduktion (Rodin, Giacometti, Donald Judd u.a.), mag einer Art Sehnsucht nach historischer Anbindung der Zeitgenossenschaft geschuldet sein, macht aber die Gültigkeit der grundsätzlichen Fragen an das Medium deutlich.
Die weit mehr als 200 Abbildungen lassen das Lesen zum vergnüglichen Vorhaben werden, zumal die knapp 900 Anmerkungen in den Apparat verbannt sind. Der Katalog der Aufnahmestücke sowie der aufgenommenen Künstler erweist sich mitsamt dem Personenregister als nützliche Hilfe. Das Literaturverzeichnis ist wohltuend auf die Thematik konzentriert, verzeichnet sowohl Quellen wie neueste Literatur und geht auch mit ungreifbaren Titeln, wie etwa Sylvain Bédards Dissertation zur Rolle der Akademien und der „Ecole du modèle“ in die Tiefe [1].

Ursula Ströbele hat mit ihrer Arbeit gleich mehrere Perspektiven zusammengeführt: Die Abmilderung einer chronischen Vernachlässigung der Skulpturforschung, ein Beitrag zu einer Kunstgeschichte der Skulptur sowie die konkrete Verbindung der kunsttheoretischen Debatten mit der Kunstproduktion der Zeit. Die vom Imhoff-Verlag besorgte Gestaltung des Bandes führt diese Verschränkung von Theorie und Praxis in bildlich-textlichen Bezugnahmen hervorragend vor Augen. Das methodisch kluge, wie selbstverständlich daherkommende Vorgehen der Verfasserin nutzt die Apparatur bereits zuhandener Vorgehensweisen der Disziplin für einen erschöpfenden Fragenkatalog. Man mag das auch als Empfehlung lesen, dem konzentrierten Blick auf die Werke mehr als homöopathische Dosen zukommen zu lassen. Ströbeles schulmedizinische Operation deckt Erkenntnisse in einem Feld auf, das der Forschung bislang verschlossen war.

Anmerkungen:
[1]. Sylvain Bedard, Les académies dans l’art francais au XVIIe siècle(1630-1720, Thèse de doctorat, Univ. Paris IV, sous la dir. de Antoine Schnapper, Paris 1999.

Redaktion: Karin Leonhard, kleonhardmpiwg-berlin.mpg.de. Diese Rezension finden Sie in Kürze auch unter: http://www.arthist.net/DocBookD.html

Ströbele, Ursula: Die Bildhaueraufnahmestücke der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris 1700 – 1730, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2012
264 S., ca. EUR 59.00

Empfohlene Zitation:
Markus Castor, Marthje Sagewitz: [Rezension zu:] Ströbele, Ursula: Die Bildhaueraufnahmestücke der Académie Royale de Peinture et de Sculpture in Paris 1700 – 1730, Petersberg 2012. In: ArtHist.net, 01.06.2013. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/5501>.

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