REV 21.06.2013

Susanne Mersmann: Die Musées du Trocadéro

Rezensiert von Tino Mager, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas
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Mit den 1878 für die Pariser Weltausstellung errichteten Musées du Trocadéro entstanden zwei neuartige, sich im Kontrast zum zeitgenössischen Kunstdiskurs befindliche Institutionen. Die Charakteristik der Einrichtungen ist einerseits Eugène-Emmanuel Viollet-le-Ducs künstlerischem Reformbestreben, andererseits der wissenschaftlichen Etablierung der Ethnografie sowie der künstlerischen Betrachtung ihrer materiellen Untersuchungsgegenstände geschuldet. Der bislang kaum beachteten Frage, wie es zu ihrer inhaltlichen Entstehung kam, welche Gedankengänge und Inspirationen der kuratorischen Idee vorausgingen und wie diese umgesetzt werden konnten, wurde nun erstmalig die gebührende Aufmerksamkeit gewidmet. Mit ihrer 2009 vom Fachbereich Germanistik und Kunstwissenschaften der Philipps-Universität Marburg entgegengenommenen Dissertation entwirft Susanne Mersmann ein umfassendes Bild der inhaltlichen Konzeption der Musées du Trocadéro. Im Zentrum ihrer Betrachtung steht Eugène-Emmanuel Viollet-le-Ducs Bestreben, mit der strategischen Einrichtung des Musée de Sculpture comparée einen Kunstkanon in Abgrenzung zur Académie und École des Beaux-Arts zu etablieren. Dieses Unterfangen wird vergleichend mit der kuratorischen Herangehensweise des ersten Direktors des ebenfalls im Palais du Trocadéro befindlichen Musée d‘Ethnographie, Ernest-Théodore Hamy, in Relation gesetzt.

Zu Beginn widmet sich die Autorin dem ideellen Rahmen des neuen Ausstellungsgebäudes. Sie stellt einerseits die architektonischen Überlegungen Viollet-le-Ducs, der den zugrunde liegenden Architekturwettbewerb abfasste, dar. Andererseits widmet sie sich den kanonkritischen Publikationen des Bildhauers Émile Soldi und der auf eine Gleichstellung der angewandten und schönen Künste abzielenden Kunstpolitik Antonin Prousts. Ihr gelingt es damit, sowohl die intellektuellen als auch die politischen Rahmenbedingungen zu beleuchten. Wünschenswert wäre an dieser Stelle lediglich, etwas mehr über die von Zeitgenossen heftig kritisierte Architektur des Palais du Trocadéro in Bezug auf Viollet-le-Ducs Kanonkritik zu erfahren. Auch wenn es ihm, was Susanne Mersmann herausstellt, darum ging, die etablierte Kunstauffassung durch die mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stehende Skulptur zu verändern.

Der zweite Teil des Buches wendet sich der Institution des Musée de Sculpture comparée zu. Dabei steht zunächst die Vormachtstellung der Académie und École des Beaux-Arts hinsichtlich ästhetischer Geschmacksbildung und künstlerischen Beurteilungsvermögens im Vordergrund. Neben der Darstellung der administrativen Strukturen und des Unterrichtssystems werden Viollet-le-Ducs Reformbestrebungen analysiert und die mit der Aufgabe seiner Professur 1864 besiegelte inhaltliche Abwendung von der École erklärt. Sein Wunsch, verstärkt wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen und eine historische Betrachtung der Kunstwerke zu fördern scheiterte somit. Wie Mersmann zeigt, floss dieser jedoch in die Konzeption des durch den Ministre de l‘Instruction publique et des Beaux-Arts, Jules Ferry, auch politisch geförderten Musée de Sculture comparée ein. Die dem Musée vorausgehenden Gedanken Viollet-le-Ducs werden aufschlussreich durch eine breite Betrachtung seines theoretischen Werkes, seiner Weltanschauung, Erfahrungen mit Ausstellungskonzepten in London und auch literarischer Einflüsse dargelegt. Wenn dabei der Kanondiskurs auch hauptsächlich aus der Perspektive Viollet-le-Ducs geschildert wird und eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit dem Begriff fehlt, wird doch ein umfangreiches und interessantes Bild sowohl einer repräsentativen französischen Museumsneugründung als auch von den Grundlagen des wissenschaftlichen Anspruchs einer neuartigen Bildungseinrichtung gezeichnet. Besonders die Auseinandersetzung mit Viollet-le-Ducs dreistufigem, bereits global ausgerichteten Epochenmodell erläutert die Entstehung seines alternativen Kanons und bietet einen interessanten Anknüpfungspunkt an Hamy‘s Musée d‘Ethnographie.

Der letzte, auf die vergleichende Konzeption des Musée d‘Ethnographie ausgerichtete Teil des Buches fokussiert zunächst wiederum auf die Auseinandersetzung mit der maßgeblichen Institution, in diesem Fall dem Louvre, um sich anschließend Hamys kuratorischer Idee des Musée d‘Ethnographie zuzuwenden. In einer Gegenüberstellung der kulturalistischen Methoden beider Protagonisten, geht die Autorin auf unterschiedliche Motivationen in der Herausbildung eines neuartigen Kunstkanons ein. Trotz aller progressiven Absichten Viollet-le-Ducs werden dabei die auf rationalistischen und rassischen Überlegungen beruhenden Unzulänglichkeiten seines Weltbildes deutlich. Interessant ist die gleichzeitige Beleuchtung zweier unterschiedlicher musealer Konzepte in einer Zeit, in der die wissenschaftliche Bestimmung der Ethnografie und die Etablierung ihrer materiellen Objekte, sowie die Frage nach deren Kunststatus hochaktuell waren.

Susanne Mersmann schließt mit ihrer Dissertation die Wissenslücke über die dem Musée de Sculpture comparée vorausgehende persönliche Motivation Viollet-le-Ducs. Kritisch wird die seiner Ideologie zu Grunde liegende Rassenkonstruktion dargelegt, die in ein eigenes Klassifikationssystem mündet. Aus dieser Perspektive der Kanonforschung entsteht ein Bild von Viollet-le-Ducs Gedankengebäude, wie es bisher nicht dargelegt wurde. Der Vergleich zu Hamy bietet die Möglichkeit, die Herausbildung eines weiteren Ansatzes nachzuvollziehen und das zeitgenössische wissenschaftliche Denken besser zu verstehen. Der mit zahlreichen Zitaten belebte, kompakte Text wahrt trotz sehr heterogner Kapitel stets die Nähe zum Untersuchungsgegenstand, ohne schwerfällig zu werden. Wenn bei der Lektüre des Buches auch der Wunsch nach deutlicheren Resümees der einzelnen Abschnitte aufkommt, stellt es dabei eine kurzweilige und inspirierende Analyse eines dem Wunsch nach Erneuerung geschuldeten Ideenkonzeptes dar.

Mersmann, Susanne: Die Musées du Trocadéro. Viollet-le-Duc und der Kanondiskurs im Paris des 19. Jahrhunderts, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2012
ISBN-13: 978-3-496-01448-5, 368 S., EUR 59.00

Empfohlene Zitation:
Tino Mager: [Rezension zu:] Mersmann, Susanne: Die Musées du Trocadéro. Viollet-le-Duc und der Kanondiskurs im Paris des 19. Jahrhunderts, Berlin 2012. In: ArtHist.net, 21.06.2013. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/5624>.

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