REV 29.11.2014

Pfeiffer-Helke, Tobias; Schmitt, Lothar (Hrsg.): Mit den Gezeiten - Frühe Druckgraphik der Niederlande

Rezensiert von Giannis Hadjinicolaou, Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Der Katalog zur frühen Druckgraphik der Benelux-Länder der in Dresden gezeigten Ausstellung (11.10.2013 - 19.1.2014) ist das Pendant der gleichzeitigen Schau der Italienischen Graphik, die ebenfalls in Dresden zu sehen war („Ars Nova. Frühe Kupferstiche aus Italien“). Dies ist kein Zufall, denn dahinter steckt ein inhaltliches Motiv: Verkrustete Kategorien wie die Kunst ‚südlich‘ oder ‚nördlich der Alpen‘ gilt es aufzubrechen. Darüber hinaus soll die Abhängigkeit der Kunst ‚nördlich der Alpen‘ - hier eher auf den Raum des heutigen Belgiens und der Niederlande beschränkt - von der ‚Wiedergeburt der Antike‘ in der italienischen Renaissance relativiert werden (Lothar Schmitt).

Denn der Tenor des Katalogs ist, dass sich in den Niederlanden das Interesse für die Antike unabhängig von Italien entwickelte. Die traditionelle Trennung von Kunstlandschaften ist der Pragmatik von geographisch geordneten Sammlungen (immer noch ein Ordnungsprinzip der meisten Museen) geschuldet, welche die Ausstellung durch das Gegenteil einer, wie Warburg sich ausdrückte, „grenzpolitischen Befangenheit“ überwinden möchte. Denn in den fundierten Katalogbeiträgen wird deutlich, dass Interdependenzen zwischen den Medien (beispielsweise zwischen Handschrift und Grafik bzw. zwischen Grafik und Malerei) bestehen, ohne ein monofokales Verhältnis herstellen zu wollen. Darüber hinaus werden die verschiedenen Gebrauchs- und Verwendungsmöglichkeiten vom neuen Medium der Graphik in Spätmittelalter und Frühneuzeit – vor allem in der privaten Nutzung (Beiträge von Tobias Pfeifer-Helke und Pablo Schneider) – als eines der zentralen Themen der Ausstellung hervorgehoben. So werden etwa Beispiele aus der Graphik angeführt, die nicht von der Malerei inspiriert wurden, sondern umgekehrt, wenn etwa Motive von der Grafik in die Malerei übernommen wurden. Dieses Wechselverhältnis der Gattungen, das bereits im 15. Jh. einsetzt, relativiert die ‚hegemoniale‘ Stellung der Malerei gegenüber anderen Medien. Darüber hinaus werden, abgesehen von der ähnlichen Arbeitsweise, die bekannten Motivwanderungen von der Goldschmiedekunst zur Graphik thematisiert, die mit besonderer Prägnanz am Salzburger Hausaltar des Meisters Perchtold zu erkennen sind (Joyce G. H. Zelen).

Die medialen Wechselbeziehungen sowie deren unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten zeigt besonders eindrucksvoll eine ‚Collage‘ mit einer ohnmächtigen Mutter Gottes, die aus einer Kreuzabnahme des Meisters mit den Bandrollen (um 1470/5) ausgeschnitten wurde. Aufgeklebt auf einem mit roter und schwarzer Handschrift versehenem Papier avanciert sie zu einem privaten Andachtsblatt. Zusammen mit dem Text steht das Bild in einem interagierenden Verhältnis zum Gebet, welches zudem durch die rote Rahmung der Figur, die teilweise an die ebenfalls rote Schrift grenzt und mit ihrem Kopf die schwarze Schrift sogar berührt, befruchtet wird. Denn die rote Farbe besticht durch ihre sinnliche Qualität und fördert die private Kontemplation der Leiden Christi. So werden die medialen Möglichkeiten des Kupferstichs ausgelotet und die Grafik erfährt neue Verwendungsmöglichkeiten, die den Betrachter zu neuen Assoziationsketten führt. Dass Handschrift und Grafik sich nicht gegenseitig ausschließen, wie die Forschung nicht selten suggeriert, sondern ein produktives Spannungsverhältnis eingehen, wird im Katalog deutlich.

Alle Beiträge eint, dass formalästhetische und kennerschaftliche Fragen nicht im Vordergrund stehen, die vielmehr mit den Sinnebenen sowie Gebrauchsfunktionen der Blätter in Verbindung gebracht werden. Darüber hinaus ist die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Dresdner Kabinetts ebenfalls programmatisch. Zwei der Beiträge (Tobias Pfeifer-Helke und Lothar Schmitt) befassen sich mit den „Vätern“ der Sammlung: Carl Heinrich von Heineken und Max Lehrs, letzterer seine Dissertation über den Meister der Bandrollen Heineken gewidmet hatte. Die Katalogbeiträge enthalten ebenso kritische Anmerkungen zum zeittypischen Positivismus der beiden Gelehrten, wie sie deren wegweisende Grundlagenforschung würdigen.

Alle Thesen und Argumente im Katalog werden durch die Blätter aus dem Dresdner Kupferstichkabinett nicht bloß illustriert, sondern stets als direkte Bildargumente fruchtbar gemacht. Auch der Leser, der nicht in der Ausstellung war, kommt anhand der klugen Bebilderung und Bilderklärungen des Katalogs unweigerlich zu der Erkenntnis, dass sich die frühe Graphik nicht illustrativ zum Text verhielt, sondern ein eigenes Recht beanspruchen konnte – eine Bild-Text-Synthese, die in der Kataloggestaltung ihre kongeniale Sichtbarkeit erfährt. Gewisse Wiederholungen in den Argumenten und Redundanzen der Fragestellungen einzelner Beiträge fallen weniger ins Gewicht vor dem Hintergrund, dass alle AutorInnen über den bisherigen Forschungsstand zum historischen Gebrauch der Graphik hinausgehen. Exemplarisch verwiesen sei auf die oben skizzierte Interaktion des Betrachters mit dem Bild. Sie ist im Hinblick auf den Bilderkult als ein Zugang zum Glauben körperlich konkret und wird mit sensorischen und sinnlichen Erfahrungen verbunden. Ohne dass die Katalogtexte einen theoretischen Überbau zu Bild und Körper liefern, scheinen ihnen vielfach Überlegungen implizit, die in Richtung eines verkörperten Denkens durch Bilder gehen. Sie liefern Anreize für künftige Forschungen.

Das Thema der frühen Druckgraphik, dem sich die Ausstellung widmete, hat seit den letzten fünfzehn Jahren eine starke Konjunktur, die sich der Katalog gewinnbringend zunutze macht. Gleichzeitig rückt er als Fallstudie die sammlungseigenen Bestände in den Fokus und verknüpft sie mit dem aktuellen Stand der Grafikforschung der letzten 10 Jahre, wie etwa die Publikationen von Jan van der Stock, Peter Schmidt, Ursula Weekes, Peter Parshall/Rainer Schoch, Ilja Veldman, Parshall und David Areford. [1] Vor diesem Hintergrund bezeugt der vorliegende Katalog im besten Sinne, dass Forschung tatsächlich auch in den Museen stattfindet, was als ein besonderer Vorzug innerhalb des deutschsprachigen Raumes betrachtet werden darf.

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Anmerkungen
[1] Jan van der Stock, Printing Images in Antwerp. The Introduction of Printmaking in a City: Fifteenth Century to 1585, Rotterdam 1998; Peter Schmidt, Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert, Köln 2003; Ursula Weekes, Early Engravers and Their Public. The Master of the Berlin Passion and Manuscripts from Convents in the Rhein-Maas Region, Turnhout 2004; Peter Parshall/Rainer Schoch (Hg.), Die Anfänge der europäischen Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch, Nürnberg (u.a.), 2005; Ilja M. Veldman, Images for the Eye and Soul. Function and Meaning in Netherlandish Prints (1450-1650), Leiden 2006; Peter Parshall (Hg.), The Woodcut in Fifteenth-Century Europe, Washington 2009; David S. Areford, The viewer and the Printed Image in Late Medieval Europe, Farnham 2010.

Pfeiffer-Helke, Tobias; Schmitt, Lothar (Hrsg.): Mit den Gezeiten - Frühe Druckgraphik der Niederlande. Katalog der niederländischen Druckgraphik von den Anfängen bis um 1560 in der Sammlung des Dresdener Kupferstich-Kabinetts, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2013
ISBN-13: 978-3-86568-913-9, 288 p., EUR 29,95

Empfohlene Zitation:
Giannis Hadjinicolaou: [Rezension zu:] Pfeiffer-Helke, Tobias; Schmitt, Lothar (Hrsg.): Mit den Gezeiten - Frühe Druckgraphik der Niederlande. Katalog der niederländischen Druckgraphik von den Anfängen bis um 1560 in der Sammlung des Dresdener Kupferstich-Kabinetts, Petersberg 2013. In: ArtHist.net, 29.11.2014. Letzter Zugriff 18.04.2024. <https://arthist.net/reviews/9009>.

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