REV 07.03.2024

Jakstat, Sven; Gebhardt, Johannes; Abel, Johanna: Präsenzeffekte

Rezensiert von Michael Scholz-Hänsel, Universität Leipzig
Redaktion: Henry Kaap
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Den Begriff des „Goldenen Zeitalters“ (Spanisch: „Siglo de Oro“) hat der Dichter Vergil mit Blick auf die Epoche des Kaisers Augustus geprägt. Danach ist er verschiedentlich wieder aufgegriffen worden und so auch für die Zeit der Entdeckungen, als Spanien die Weltgeschichte in vielerlei Hinsicht dominierte. Aber der genaue zeitliche Umfang ist umstritten. Dies gilt auch für die letzte Phase, als Spanien nach dem Pyrenäenfrieden die Vormacht bereits an Frankreich verloren hatte, aber eine nochmalige kulturelle Blüte erlebte. Jonathan Brown hat den scheinbaren Widerspruch in „The Golden Age of Painting in Spain“ (1990) bereits hervorgehoben, aber eine Erklärung versuchte erst Judith Wellen in ihrem Buch „Bilder wider das Ende der Dynastie“ (2015). Der König, so die Autorin, habe den Verlust an Macht durch die Kunst zu kompensieren versucht. Tatsächlich ist gerade diese zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts durch eine Reihe von spanischen Werken charakterisiert, die wegen ihrer Vielschichtigkeit in den Kanon der Kunstgeschichte eingegangen sind. Man denke nur an Diego Velázquez‘ berühmtes Bild „Las Meninas“ (um 1656).

Zuerst Victor Stoichita mit „Visionary Experience in the Golden Age of Spanish Art“ (1997) und vorerst zuletzt Javier Portús mit der anregenden Ausstellung „Metapintura“ (2016) haben seitdem versucht, uns Einblicke in die Komplexität barocker Kunst in Spanien zu geben. Dabei kommt es immer wieder zu intermedialen Prozessen und einem interessanten Zusammenspiel profaner und sakraler Elemente, die typisch für die spanische Kunst bis ins 20. Jahrhundert sind, und die Entschlüsselung aus einer Außenperspektive bisher erschwert haben dürften. Doch noch immer scheinen nicht alle Schätze gehoben.

Ein ganzes Altarensemble und seine aufwändige mediale Inszenierung ist daher Thema des Buches von Sven Jakstat, Johannes Gebhardt und Johanna Abel. In den Jahren 1684 bis 1690 hatte Karl II. eine schon von Philipp II. an den Escorial gebrachte wundertätige Hostie aus dem niederländischen Gorkum neu in Szene gesetzt. Zu ihrer Verehrung ließ er eine kostbare Standuhr zu einem Tabernakel (custodia) umarbeiten, gab ihr einen eigenen Raum in der Sakristei (camarín) und verschloss diesen mittels eines Altarretabels. Das Gemälde stammt von Claudio Coello und trägt den Titel „Sagrada Forma“, es zeigt spiegelbildlich den Raum vor dem Gemälde und hier den König im Halbprofil, wie er den Kultgegenstand anbetet. Damit wird ein Ereignis dokumentiert, das tatsächlich am 19. Oktober 1684 stattfand, als die Translation der „Sagrada Forma“ aus einem der Reliquienschränke der Escorialkirche in die Sakristei erfolgte.

Nur an zwei Festtagen im Jahr wurde fortan das Gemälde wie von Zauberhand in den Boden versenkt und ermöglichte den Anwesenden den Blick auf eine Skulpturengruppe und die Hostie im Tabernakel. Das dann sichtbare Blutwunder war der beste Beweis für das von der Katholischen Kirche propagierte Dogma der Realpräsenz Christi im Sakrament der Eucharistie – bis heute ein Hauptstreitpunkt zwischen protestantischer und katholischer Glaubensauffassung.

Bilder als mediale Hilfsmittel, um Unsichtbares (Heiliges) in Präsenz zu materialisieren und Affekte zu leiten, sind Thema einer Forschungsrichtung, die von Klaus Krüger angeführt interdisziplinär agiert. Obwohl das Altarensemble im Escorial schon vielfach Gegenstand kunstgeschichtlicher Analysen war, ist es doch bisher nicht unter dieser Perspektive beleuchtet worden. Die Tatsache, dass es sich noch an seinem ursprünglichen Bestimmungsort befindet, der Mechanismus der Versenkung bis heute zum Einsatz kommt (wenn auch nur noch an einem Tag) und zudem eine zeitgenössische Beschreibung aus dem Jahr 1690 von Fray Francisco de los Santos existiert, macht den Ansatz in diesem Fall besonders reizvoll. Unterschiedliche Formen der Vorstellung und Erzeugung von Präsenz kommen hier zum Tragen (10).

So betrachten die Autor:innen die Altarbildanlage unter verschiedenen Perspektiven, doch immer auf der Suche nach „Präsenzeffekten“. Sven Jakstat liefert zunächst eine ausführliche Beschreibung des Werkes und seiner räumlichen Disposition in der Sakristei. Dabei interessiert ihn das Zusammenwirken der einzelnen Bestandteile und welche Folgen dieser intermediale Austausch hat. Wie schon im Falle der von ihm betreuten Ausstellung „El Siglo de Oro. Die Ära Velázquez“ (2016) betont er dabei den für Spanien so charakteristischen Dialog zwischen Skulptur und Malerei. Dies bringt neue Erkenntnisse etwa im Zusammenspiel zwischen dem Gemälde Coellos und den es rahmenden Steinreliefs. Auch wird die Ausstattung und Nutzung des Camaríns, einer Art Privatkapelle der Könige, ausführlich gewürdigt. Die hier verwendeten abstrakten geometrischen Muster interpretiert er als Mittel, um den Übergang in eine andere himmlische Seinssphäre erfahrbar zu machen.

Johannes Gebhardt setzt die Wandelbarkeit des Retabels in Bezug zu anderen Beispielen und kann hierfür auf die Ergebnisse seiner Dissertation „Apparitio Sacri – Occultatio Operis. Zeigen und Verbergen von Kultbildern in Italien und Spanien“ (Hirmer, 2020) zurückgreifen. Dabei spannt er einen weiten Bogen von den bemalten, aber statischen Reliquienschränken aus der Zeit Philipps II. zu der technisch ausgefeilten Inszenierungskunst unter Karl II. Ein wichtiges Vorbild findet er in Valencia, wo Erzbischof Juan de Ribera um 1600 die kirchlichen Reformideen nach dem Tridentinum durch die Förderung der Künste voranzutreiben suchte.

Die Literaturwissenschaftlerin Johanna Abel schließlich thematisiert die Bezüge zum zeitgleichen „auto sacramental“, dem Fronleichnamsspiel. Ihrer Meinung nach wurde im spanischen Sakramentsspiel „über Bildenthüllungen ein ähnlicher Präsenzeffekt ausgelöst wie mit dem Altarretabel der Klostersakristei.“ (149) Aber die Autorin wird noch konkreter: In den Bühnenanweisungen zur Wiederaufführung von Calderón de la Barcas „El lirio y el azucena“ zur Krönung Philipps V. 1701 glaubt sie eine Orientierung an Coellos Altarbild zu erkennen. Heißt es doch dort, dass am Ende des Stückes eine große Leinwand enthüllt werden soll, die den neuen König (Philipp V.) „sogar mehr als im Halbprofil“ (174) zeige. Wird der körperlich deformierte Karl II. (bei Coello erschien er deshalb im Halbprofil) hier in den neuen idealisierten Zeichenkörper Philipps V. überführt?

Der Text von Abel hat viele solcher Hypothesen, die nicht leicht zu verstehen sind, aber einmal mehr zeigen, wie komplex der spanische Barock zu denken ist – ganz anders als ihn sich einst Carl Justi vorgestellt hatte (ein Autor, dessen Pionierrolle an anderen Stellen wiederum Jakstat und Gebhardt zu würdigen wissen). Nebenbei unterstreicht der Beitrag von Abel auch die Bedeutung interdisziplinärer Forschung, wenn es gilt den Gesamtkunstwerken der Barockzeit gerecht zu werden. In Spanien betrifft dies vor allem den intensiven Austausch zwischen bildenden Künstlern und Literaten, die im „Siglo de Oro“ oft die gleichen Themen bearbeiteten und sich wechselzeitig zitierten.

Das hier besprochene Buch gibt ein sehr gutes Beispiel für die Bedeutung sogenannter Präsenzeffekte und ist mit seinen zahlreichen Anmerkungen eine wissenschaftliche Bravourleistung. Es zeigt, wie mit Hilfe einer kunstvollen Inszenierung selbst zweifelhafte Wunder wahr werden konnten, und dass man auch in Spanien diese aktuellen medialen Mittel zu nutzen wusste. Vor allem im letzten Beitrag von Abel scheint mir das Wort „Präsenz“ allerdings etwas übertrieben zum Einsatz zu kommen (vgl. vor allem S. 169). Auch wird nicht ganz deutlich, in welchem Verhältnis Theater und bildende Künste stehen. Während die Künstler in Spanien weitgehend noch im Handwerkerstatus verharrten, genossen Autoren wie Calderón de la Barca hohe Wertschätzung. Ist der Einsatz des (Bilder-)Vorhanges somit nicht zumindest durch das Vorbild des Theaters angeregt? Hier scheinen Jakstat und Gebhardt einerseits und Abel andererseits unterschiedlicher Auffassung.

Ungeklärt bleibt auch die zentrale Frage, wer und mit welcher Intention für das komplexe Altarensemble im Escorial verantwortlich zeichnete. War es der damalige Prior des Klosters, Fray Francisco de los Santos, der auch die Geschichte der „Sagrada Forma“ niederschrieb? Hat Coello tatsächlich eigenständig über das komplizierte theologische Konzept reflektiert, wie Jakstat meint (29)? Wer schließlich verfasste die erwähnte Bühnenanweisung in der Fassung von 1701? War es, wie Abel vermutet, Teodoro Ardemans, ein Schüler von Coello? Welchen Einfluss schließlich hatte der König auf die Gestaltung, und hat er hier wirklich bewusst Machtpolitik betrieben, oder wollte er nur als frommer Kirchenmann in die Geschichte eingehen und wurde benutzt? Die Verantwortlichkeiten sind im spanischen „Siglo de Oro“ nicht immer klar; das galt auch schon für das aufwändige Bildprogramm der Bibliothek im Escorial.

Lange führten die Spanier als Vormacht in Europa den Glaubenskrieg zunächst gegen die Muslime und dann die Protestanten an. Ihre Erfahrungen aus der „Reconquista“ beflügelten ihre Militärmaschinerie und halfen ihnen bei der schnellen Eroberung der „Neuen Welt“. Philipp II. versuchte mit seinen vielseitigen Reformen das Land für die nächsten Jahrhunderte vorzubereiten. Als zentrale Figur auf dem Tridentinum stand er selbstbewusst und ganz im Sinne der Zeit zweifelhaften Wundern – so auch der angeblichen Hostienschändung von Gorkum – kritisch gegenüber. Erst als die Katholische Kirche sich in der Barockzeit wieder im Vormarsch befand und viele zum „Alten Glauben“ konvertierten, lehnte man sich auch in Spanien wieder enger an die päpstliche Kirche an. Philipp III. suchte sich vor allem durch seine Vorfahren zu legitimieren, indem er den Escorial um eine an den römischen Katakomben orientierte Grabanlage im Pantheon bereicherte. Philipp IV. hatte sich dem Friedensschluss von Münster 1648 zunächst noch verweigert, aber das spanische Militär war der Konkurrenz nicht mehr gewachsen. So suchte Karl II. sein Heil nicht im Kampf, sondern in gut inszenierten öffentlichen Glaubensbekenntnissen, wie schon Judith Wellen richtig beobachtete. Die auffällige Materialität, vielleicht sogar die ganze Inszenierung im Escorial, so argumentieren zum Teil auch die Autor:innen, dient möglicherweise dazu, das Authentizitätsdefizit der Hostie von Gorkum vergessen zu machen.

Philipp II. hatte mit dem Escorial einen monumentalen Bau geschaffen, an dem sich seine Nachfolger hinfort abarbeiten mussten. In der Kirche, wo seine Familie (auch hier ausgewählte Mitglieder) als Skulpturengruppe in ewiger Anbetung verharrt, ließ er kaum Platz für Nachfolger und schickte am selben Ort noch einen Text nach, der nur würdigen Erben eine Präsenz an dieser Stelle erlaubt. Somit mussten ab Philipp III. alle Habsburger neue Wege der Selbstdarstellung wählen.

Ein künstlerisches Hauptwerk aus der Phase Karls II. ist das hier diskutierte Altarensemble im Escorial, ein anderes wäre das von Francisco Rizi gemalte „Auto de fe“ (1689), mit dem dieser ein Ketzergericht auf der Plaza Mayor von Madrid dokumentierte. In beiden Fällen geht es um den symbolischen Kampf gegen Ketzer, der seit 1600 auch erfolgreiches Thema eines besonderen Typs in der spanischen Malerei und Skulptur ist, des „Matamoros“ („Maurentöters“).

Was dem vorliegenden Buch fehlt, ist letztlich eine historische Kontextualisierung, die auch ethische Aspekte anspricht. Der von Abel noch verwendete Begriff der „Gegenreformation“ sollte gerade im Hinblick auf das innovative Potential der „Sagrada Forma“ durch den aktuelleren der „Konfessionalisierung“ oder zumindest der „Katholischen Reform“ ersetzt werden. Auch geht es nicht nur um eine raffinierte höfische Inszenierung, sondern um handfeste Prozesse der „Exklusion“, wie das zeitgleiche „Auto de fe“ und das Aufkommen des „Matamoros“ unter Beweis stellen. Die Translation der „Sagrada Forma“ 1684 wurde mit der Verteidigung Wiens vor den türkischen Truppen verbunden und richtete sich somit, genau wie der „Matamoros“, gegen die äußeren Ketzer, während das „Auto de fe“ von Rizi die inländischen Ketzer in den Fokus nahm. Die extreme Stigmatisierung der vermeintlichen Anderen hat Spanien einen gefährlichen Sonderweg beschert, der bis in den Bürgerkrieg und die Francozeit nachwirkte. Auch der Diktator versuchte übrigens noch mit dem „Valle de los Caidos“ vergeblich, den Escorial zu übertreffen.

Die Inszenierung der „Sagrada Forma“ ist nicht nur ein Bespiel für die Vielschichtigkeit der spanischen Kunst des „Siglo de Oro“, ihr liegen auch soziale Konflikte zugrunde, die ihre Aktualität nicht verloren haben. Das schmale Buch von Sven Jakstat, Johannes Gebhardt und Johanna Abel kann bei richtiger Lesweise einen ganzen Kosmos eröffnen.

Jakstat, Sven; Gebhardt, Johannes; Abel, Johanna: Präsenzeffekte. Die Inszenierung der »Sagrada Forma« im Real Monasterio de El Escorial (= BildEvidenz), Göttingen: Wallstein Verlag 2021
ISBN-13: 978-3-8353-5040-3, 192 S., 59 farb. Abb., Klappenbroschur, 12 x 19 cm, € 19,90 (D) / € 20,50 (A), Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Michael Scholz-Hänsel: [Rezension zu:] Jakstat, Sven; Gebhardt, Johannes; Abel, Johanna: Präsenzeffekte. Die Inszenierung der »Sagrada Forma« im Real Monasterio de El Escorial (= BildEvidenz), Göttingen 2021. In: ArtHist.net, 07.03.2024. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/41387>.

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