REV 16.03.2024

Patina: Spuren der Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart

Rezensiert von Tiziana Caianiello, HAWK – Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst, Hildesheim
Redaktion: Steffen Haug
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Das Buch „Patina: Spuren der Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart“, herausgegeben von der Restauratorin Irene Glanzer und der Kunsthistorikerin Angela Matyssek, birgt bereits im Titel Diskussionspotenzial. Das Thema der Patina hat schon im Diskurs um den Erhalt historischer Kunstwerke für heftige Auseinandersetzungen gesorgt: Hier sei insbesondere an die „Cleaning Controversy“ erinnert, die 1947 über die Reinigung einer Gruppe von Gemälden der National Gallery in London entfachte und bis 1963 auf den Seiten des „Burlington Magazine“ ausgetragen wurde. Nun wird der Begriff Patina auf die Gegenwartskunst angewendet, von der man keine Spuren der Vergangenheit erwarten würde. Ein Hauptverdienst der Publikation ist daher schon die besondere Themenwahl, die eine neue Perspektive eröffnet.

Der Begriff Patina entzieht sich einer strikten Definition und bezieht sich allgemein auf Altersspuren, die nicht auf akute Beschädigungen wie Brände oder Transportschäden zurückgehen, sondern auf den natürlichen Verfallsprozess des Materials. Nutzungsspuren, die in direktem Zusammenhang mit der Funktion des Werkes stehen, könnten ebenfalls unter den Begriff der Patina fallen. Solche Alters- und Nutzungsspuren werden oftmals als ehrenwerte Zeichen der Zeit akzeptiert oder sogar geschätzt. Die Herausgeberinnen unterstreichen in ihrer Einleitung jedoch, dass dem Begriff trotz der positiven Konnotation „ein Moment des ‚Kippens‘ zum Schaden innenwohnt“ (S. 9), der ihn zu einer besonders vielversprechenden Kategorie auch für die Auseinandersetzung mit Gegenwartskunst macht. Denn Patina ist ein „Wertbegriff, der Zuschreibungen und Interpretationen unterliegt“ (S. 7) und folglich ein Indikator dafür, wie Zeit und Vergänglichkeit in Bezug auf einzelne Werke beurteilt werden.

Ziel des Sammelbandes, der eine Tagung an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden aus dem Jahr 2019 dokumentiert, ist es, verschiedene Patina-Phänomene und den Umgang mit Zeitspuren in der Gegenwartkunst aufzuzeigen (S. 7). Dabei werden sowohl die Materialien und ihre Alterung als auch die Interpretation künstlerischer Konzepte berücksichtigt. Der Beitrag von Ursula Haller führt den restauratorischen Begriff der Patina ein und legt fundierte historische und theoretische Grundlagen für den Tagungsband aus der Sicht der Restaurierungswissenschaften. Die kunsthistorischen Aufsätze von Eva Kernbauer und Pia Gottschaller widmen sich dagegen den „Spuren der Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart“ aus einer konzeptuellen Perspektive und erörtern, wie verschiedene Künstler:innen Bezug auf die Vergangenheit nehmen und Zeitlichkeit thematisieren.

Eine der Fragen, die der Buchtitel aufwirft, ist, inwieweit die Gegenwartskunst eine Patina im Sinne von Alterungserscheinungen aufweisen darf bzw. kann oder, wie es Hillka Hiiop in ihrem 2008 erschienenen Aufsatz pointiert formuliert: „Does the ‘New Art’ Have a Right to Get Old?“[1] In Zusammenhang mit dem Patina-Begriff werden im Tagungsband mehrfach die „Erinnerungswerte“ von Alois Riegl herangezogen,[2] insbesondere der „Alterswert“ und der „historische Wert“: zum Beispiel in der Einleitung der Herausgeberinnen (S. 9), in Hallers Beitrag (S. 21) oder im Aufsatz von Irene Glanzer (S. 69). Allerdings spielt ein anderer Wert eine zentrale Rolle im gesamten Tagungsband, obwohl er nie explizit erwähnt wird: der „Neuheitswert“, der in Riegls Wertsystem als Unterkategorie des „Kunstwerts“ zu den „Gegenwartswerten“ gehört. Der „Neuheitswert“ fordert, dass ein gerade erst geschaffenes Kunstwerk auch neu aussieht. Je kürzer die tatsächliche oder auch wahrgenommene historische Distanz zur Entstehungszeit, desto größer ist der ihm zugeschriebene „Neuheitswert“. Dementsprechend hebt Glanzer hervor, dass Spuren in der Gegenwartskunst „als großer Verlust gewertet“ werden, weil sie die „Makellosigkeit“ eines Werkes als erste beeinträchtigen (S. 70). „Der Neuheitswert ist in der Tat der formidabelste Gegner des Alterswertes“, wie Riegl feststellte.[3] Daher stellt sich für jedes zeitgenössische Kunstwerk die Frage, ab wann es als ‚Denkmal‘ begriffen wird (vgl. Glanzer, S. 71), das heißt, ab welchem zeitlichen Abstand Alterungs- und Nutzungsspuren zunehmend geschätzt werden, anstatt überwiegend als Beeinträchtigungen empfunden zu werden.

Aus den im Tagungsband diskutierten Beispielen lässt sich schließen, dass viele Künstler:innen den „Neuheitswert“ priorisieren, da Alterungsphänomene die von ihnen intendierte Wirkung „verfälschen“ würden. Dies wird im Beitrag „Die Verfälschung der Zeit: Neu durchgesehene Fassung“ von Carol Mancusi-Ungaro besonders deutlich, der sich vor allem mit konzeptueller Kunst beschäftigt. Er ist die revidierte Version und erste deutsche Übersetzung des Forbes Prize Vortrags, den die Restauratorin bei der Konferenz des International Institute for Conservation of Historic and Artistic Works (IIC) in Los Angeles 2016 präsentierte. In diesem Zusammenhang stellt Mancusi-Ungaro fest: „die Praxis der Nachbildung [replication] ist Teil des restauratorischen Repertoires von Behandlungsalternativen geworden“ (S. 138). Ihrer Meinung nach falle die „Nachbildung im Zuständigkeitsbereich der Restaurator:innen“ (S. 145), die daher als „Koproduzent:innen“ gelten könnten (S. 140).

Auch im Umgang mit der Fotografie der Becher-Schule scheint der „Neuheitswert“ priorisiert zu werden, wie der Beitrag von Angela Matyssek „(K)ein Interesse an Patina“ zeigt. Gerade in der Farbfotografie trifft Patina auf geringe Akzeptanz, was sich vor allem mit der besonderen Geschwindigkeit und Irreversibilität der Alterungsphänomene erklären lässt. Verblasste und farbstichige Fotowerke werden oft als unästhetisch empfunden (S. 150) und durch Neuproduktionen ersetzt. Diese werden laut Matyssek in vielen Fällen nicht von Restaurator:innen begleitet, sondern unterliegen der Kontrolle der Künstler:innen oder deren rechtlichen Nachfolger:innen, die auch eine Zerstörung der ersetzten verblichenen Editionsexemplare verlangen können (S. 156). Da sich die fotografische Technik und die Trägermaterialien im Lauf der Zeit verändert haben, weicht oft die materielle Beschaffenheit von Neuproduktionen von jener der Vintage-Prints erheblich ab. Deswegen erscheinen „Bilder, die nach Jahrzehnten neu produziert werden, […] durch den sichtbaren Bruch der gemeinsamen zeitlichen Verankerung von Motiv und Materialisierung seltsam unstimmig“ (S. 157). Laut Matyssek führt das dazu, dass Patina manchmal als das „kleinere Übel“ doch bevorzugt wird (S. 158).

Im Fall von Werken aus Kunststoff und digitaler Kunst wird die Möglichkeit einer Patina von vorneherein abgestritten. Kunststoffe altern wie Fotografie sehr schnell und sind nicht restaurierbar, so dass Friederike Waentig den eher positiv besetzten Begriff Patina in diesem Zusammenhang als eine Verharmlosung des tatsächlichen Zersetzungsprozesses des Materials betrachtet. In diesem Bereich sei die Rekonstruktion des Objektes zuweilen die einzige praktikable Option. Andreas Weisser fragt sich in seinem Beitrag über Medienkunst: „Was soll digitale Patina sein? Wie sollen sich Schichten der Alterung über Nullen und Einsen und über Pixel legen?“ (S. 185) Daher gelangt er zum Ergebnis, dass es bei digitaler Kunst vielmehr um eine „Wahrnehmungspatina“, das heißt „um Erwartungen, Erinnerungen, Nostalgie“ geht (S. 185f.).

Der Begriff Nostalgie taucht im Tagungsband sehr oft auf. Bereits im ersten Text merkt Ursula Haller an, dass eine breite Definition von Patina als Alterungs- und Nutzungsspuren und ihre Wertschätzung den Übergang zwischen „Alterswert“ und Nostalgie fließend werden lasse (S. 21). Dies wirft aus meiner Sicht die Frage auf, welche Bedeutung die „Erinnerungswerte“ „Alterswert“ und „historischer Wert“ heute für uns haben: Sind sie bloß romantische Verklärung oder besitzen sie auch wissenschaftlichen Nutzen? Nach welchen Kriterien beurteilen wir den „historischen Wert“ eines Werkes? In wie weit ist es aus der Perspektive der Kunstgeschichte wichtig, dass die Materialien eines Werkes auf seine Entstehungszeit hinweisen? In welchen paradigmatischen Fällen stellen Spuren am Werk bedeutende Zeitzeugnisse dar, die potenziell auch in der Zukunft wichtige Informationen liefern können?

Interessanterweise hat sich „Patina“ über weite Strecken zu einem Buch über Neuproduktionen entwickelt. Folglich regt es eine fruchtbare Reflexion über „Erinnerungswerte“ und materielle Wiederherstellung von Kunstwerken an. Offen bleibt, wie die jeweiligen Zuständigkeitsbereiche von Restaurator:innen, Kurator:innen, Künstlerassistent:innen und -Nachlässe, Handwerker:innen und des Personals aus dem Bereich Art Handling abgesteckt werden können, wenn es darum geht, wie im Beitrag von Mancusi-Ungaro beschrieben, eine neue Manifestation eines Werkes zu realisieren, und ob sie in der Praxis je nach Situation neu verhandelt werden. In diesem Zusammenhang bedürfen berufsethische Aspekte einer weiteren Klärung.

Abschließend stellt sich das Buch als eine ausgesprochen wertvolle und anregende Lektüre für alle dar, die sich mit den komplexen Fragen von Vergänglichkeit, Erhaltung und Neuproduktion zeitgenössischer Kunst auseinandersetzen. Die Publikation eröffnet eine Diskussion über Material- und Wahrnehmungsveränderungen und deren Bewertung über die Zeit. Somit präsentiert sie den traditionellen Begriff Patina als eine komplexe Kategorie, die erneut ein breites Spektrum an Fragestellungen – von materialbezogenen über ästhetische und historische bis hin zu konzeptuellen und berufsethischen – aufwirft.

Anmerkungen
[1] Hillka Hiiop, “The Possibility of Patina in Contemporary Art or, Does the ‘New Art’ Have a Right to Get Old?”, in: Koht ja Paik. Place and location. Studies in environmental aesthetics and semiotics VI, hrsg. von Eva Näripea, Virve Sarapik und Jaak Tomberg, Eesti Kunstiakadeemia Kirjastus, Tallinn, S. 153-165.
[2] Alois Riegl, Der moderne Denkmalkultus: Sein Wesen und seine Entstehung, Wien 1903.
[3] Ebd., S. 46.

Glanzer, Irene; Matyssek, Angela (Hrsg.): Patina. Spuren der Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart, München: Edition Metzel 2023
ISBN-13: 978-3-88960-227-5, 218 Seiten

Empfohlene Zitation:
Tiziana Caianiello: [Rezension zu:] Glanzer, Irene; Matyssek, Angela (Hrsg.): Patina. Spuren der Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart, München 2023. In: ArtHist.net, 16.03.2024. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/41436>.

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